25.06.2012
Zum Inhalt
In einer fernen Zukunft blicken Schüler in ihrem Unterricht auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft der letzten Jahrtausende zurück. Sie stellen Fragen, es kommt zu einer angeregten Diskussion. Als zentrales Problem steht für sie die Überlegung, ob für jede Gesellschaft vernunftbegabter Wesen der Kommunismus die höchste Stufe der Entwicklung sei. Die Schüler nennen Beispiele, die dieser These scheinbar widersprechen. Unter anderem wird die Zivilisation auf dem weit entfernten Planeten Tormans als Beispiel angeführt. Der Lehrer beschließt, mit der Klasse die Gedenkstätte für die Helden der ersten Expedition zum Tormans zu besuchen. Auf der Reise dorthin sehen sich die Schüler den Expeditionsbericht in Form eines Films an.
Die Erde steht seit langem über den »Großen Ring« in Kontakt mit anderen Zivilisationen der Milchstraße. Eine Expedition von Wesen aus dem Sternbild Zepheus berichtete von einem weit entfernten Planeten, auf dem auch Menschen leben sollen. Nachforschungen in den Archiven auf der Erde ergeben, dass diese Menschen Nachkommen einer kleinen, vor langer Zeit verschollenen Flotte von Raumschiffen sein müssen. Einer Legende nach begaben sich vor rund 2000 Jahren drei Raumschiffe auf eine weite Reise in die Tiefen des Weltraums. Kurz nach dem Start brach der Kontakt zu ihnen ab, kein Schiff kehrte jemals zurück.
Der Forschungsrat der Erde beschließt daraufhin, das Raumschiff »Dunkle Flamme« unter Leitung von Fay Rodis dorthin zu schicken. Die Expedition erreicht den fernen Planeten und erzwingt mit einem Trick die Landung.
Die Herrscher von Tormans – der Rat der Vier – sind über die Ankunft der Abgesandten der Erde wenig erfreut. Nicht ohne Grund fürchten sie sich schon seit langem vor äußeren Einflüssen. Nur die strenge Isolation des Planeten garantiert ihrer absoluten Macht Stabilität und Beständigkeit. In der Vergangenheit kam es zu einer schrecklichen Umweltkatastrophe. Ausgelöst wurde sie durch die extreme Überbevölkerung und die damit verbundene Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Millionen Menschen starben an Hunger und Seuchen. Um das Bevölkerungsproblem zu lösen, griffen die Herrscher zu einer drastischen und unmenschlichen Maßnahme: Sie teilten die Menschen in zwei Kasten – die Langlebigen und die Kurzlebigen. Beide Gruppen stehen sich feindlich gegenüber.
Der Rat der Vier herrscht mit absoluter Macht über die gesamte Zivilisation auf Tormans. Um seine Macht zu erhalten bedient er sich der Manipulation und Demagogie. Er kontrolliert und zensiert jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Mit einem ausgeklügelten Spitzelsystem wird das Denken der Menschen überwacht. Die Wissenschaft ist zum Werkzeug dieses Systems verkommen. Die Kurzlebigen sind so manipuliert, dass sie mit 25 Jahren freiwillig aus dem Leben scheiden. Zu den Langlebigen gehören vor allem Wissenschaftler. Sie unterstützen das Herrschaftssystem, weil es ihnen ein langes Leben und besondere Privilegien garantiert. Trotzdem haben sich erste Widerstandsgruppen gebildet. Die Herrscher von Tormans befürchten nun, dass die Anwesenheit der irdischen Raumfahrer Unruhe schüren könnte. Deshalb wird den Besuchern ein Landeplatz in einem abgelegenen Gebiet zugewiesen. Fay Rodis begibt sich zusammen mit einigen anderen Besatzungsmitgliedern an den Hof des obersten Herrschers.
Die im Raumschiff zurückgebliebenen Raumfahrer versuchen inzwischen Kontakt mit weiteren Bewohnern Tormans aufzunehmen. Unweit des Landeplatzes finden sie einen geeigneten Versammlungsort. Dort werden mehreren großen Gruppen von Tormansianern Filme gezeigt. Die Teilnehmer dieser Vorführungen erfahren, wie sich das Leben auf der Erde in den letzten 2000 Jahren weiterentwickelt hat, mit der Folge, dass sich in ihnen die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft regt. Die Raumfahrer haben aber allein die Vermittlung von Wissen im Sinn, weder eine Weitergabe von Waffen an Widerstandgruppen, noch eine aktive Beteiligung am Sturz der Regierung. Sie sind der Auffassung, dass die Tormansianer selbst ihren Weg in die Zukunft finden müssen.
Nach mehreren Treffen mit dem Rat der Vier erhalten die Forscher die Erlaubnis, den Planeten zu erkunden. Fay Rodis untersucht in der Zwischenzeit antike Aufzeichnungen. Trotz ihrer guten Ausrüstung ist der Aufenthalt auf Tormans nicht ungefährlich. Drei Raumfahrer sterben auf einer Erkundungsmission in einem alten Siedlungsgebiet. Später wird die junge Soziologin Tschedy Dhaan bei einem Unfall in der Hauptstadt schwer verletzt.
Dann entdeckt ein tormansianischer Wissenschaftler, wie die Schutzfelder der Raumfahrer überwunden werden können. Die Expeditionsleiterin steht kurz davor, festgenommen zu werden. Sie befürchtet, dass sie und ihr Wissen missbraucht werden könnten. Daraufhin beschließt sie, sich selbst zu töten. Fay Rodis befiehlt ihren Kameraden, zur Erde zurückzukehren, ihren Tod aber nicht zu rächen.
Der Rückflug zur Erde ist viel schwieriger als der Flug zum Tormans. Die Unvollkommenheit des Gradstrahlraumschiffs führt dazu, dass die Überlebenden den Zielort verfehlen. Die aufwändige Berechnung eines neuen Kurses verlangt den Besatzungsmitgliedern die letzten Kräfte ab. Mit letzter Energie erreicht die »Dunkle Flamme« die Erde. Die Belastungen der Reise und des Aufenthalts auf Tormans fordern ihren Tribut. Die überlebenden Raumfahrer sterben wenige Jahre nach ihrer Rückkehr. Doch ihre Opfer und ihre Entbehrungen waren nicht umsonst. Eine Botschaft vom Planeten Tormans übermittelt das Bild eines Denkmals, das die Besatzung der »Dunklen Flamme« gemeinsam mit Widerstandskämpfern darstellt. Eine neue Expedition startet später zu dem Planeten, der jetzt den Namen Tor-Mi-Oss trägt.
Hintergrund
Der Roman »Die Stunde des Stiers« erschien 1970 als vollständige Ausgabe im Verlag Molodaja Gwardija auf Russisch. Nur wenige Monate später wurden alle Ausgaben aus den Bibliotheken der Sowjetunion entfernt und die Erwähnung des Romans verboten. Jefremow war aufgrund seines Werkes bei den Machthabern in Ungnade gefallen. Erst durch eine Kampagne bekannter sowjetischer Wissenschaftler, Künstler, Piloten und Kosmonauten wurden seine Werke später wieder gedruckt; bis auf den Roman »Die Stunde des Stiers«. Das Buch wurde bis weit in die 80er Jahre verschwiegen und erreicht heute in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eine Auflage von mehr als 1 Million Exemplaren. (Gerd-Michael Rose in [1]; S. 498/499)
Eine deutsche Ausgabe wurde 2010 von Gerd-Michael Rose veröffentlicht.
Dieses dritte Science-Fiction-Werk Jefremows wird als Abschluss des Zyklus »Der große Ring« angesehen. Zeitlich muss die Handlung einige hundert Jahre nach den Ereignissen in »Das Mädchen aus dem All« eingeordnet werden. Der Kontakt zum »Großen Ring«, einem Zusammenschluss verschiedener Zivilisationen der Milchstraße besteht schon seit rund 1500 Jahren. ([1], S. 197)
Persönliche Wertung
Jefremow widmet sich in diesem Roman einer noch intensiveren Darstellung seiner Sicht der Zukunft der Menschheit. Seine Überlegungen sind interessant und inspirierend. Der Autor konzentriert sich jetzt mehr auf die Beschreibung persönlicher Beziehungen. Außerdem enthüllt er seine Vorstellung von der Persönlichkeit des zukünftigen Menschen. Aufmerksam die gesellschaftlichen Entwicklungen seines eigenen Landes verfolgend, ist ihm bewusst, dass sich positive Anfänge jederzeit in ihr Gegenteil umkehren können. Das von ihm geschaffene Bild eines »Stiers« gab und gibt es zu jeder Zeit auf dieser Welt. Er beschreibt damit einen Menschen, der ohne Rücksicht auf seine Umwelt nur eigene Ziele verfolgt und durchsetzt. Ein zentrales Thema des Romans ist deshalb die Überwindung von Selbstsucht und Machtstreben sowie dem daraus für Andere erwachsenden Elend und Leid. Die von ihm beschriebenen Sicherungssysteme zur Bewahrung vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen sind nachvollziehbar.
Ganz im Gegensatz zur damals in der Sowjetunion vorherrschenden Ideologie ist mit der gezielten Entwicklung von Persönlichkeiten aber keine Gleichmacherei gemeint. Es geht nicht darum, dass eine Macht oder Partei den Menschen vorgibt, was sie für gut oder schlecht zu befinden haben. Jefremows Zukunftsentwurf stellt die Entwicklung des Individuums in den Mittelpunkt. Der einzelne Mensch soll aus dem immerwährenden Prozess des Infernos befreit werden, befreit von der Hilflosigkeit gegenüber einem Schicksal, das er selbst nicht beeinflussen kann. Das persönliche Glück jedes Menschen ist die Grundlage für eine friedliche Gesellschaft. Positive Charaktereigenschaften und Talente sollen gefördert, unerwünschte Seiten einer Persönlichkeit überwunden werden. Dies soll nicht durch Zwang oder Unterdrückung, sondern durch Einsicht und Erkenntnis geschehen. Einer individuellen Betreuung durch Lehrer und Mentoren wird dabei die höchste Bedeutung zugemessen. Die Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen erfolgt bspw. in mehreren Stufen. Während sie im sogenannten nullten Zyklus ein Leben in Freiheit und Sorglosigkeit verbringen können, ist der nachfolgende erste Zyklus der schwierigste im Leben eines Kindes. Zum ersten Mal muss das Kind für seine Taten die volle Verantwortung übernehmen. Dieser Prozess wird als schmerzhaft, aber auch notwendig beschrieben. ([1], S. 208)
Der Autor verwendet in seinem Roman mehrmals das Wort Noosphäre. Der Begriff »noosphere« (frz., eng.) geht auf Pierre Teilhard de Chardin zurück. Der Paläontologe, Theologe und Evolutionstheoretiker de Chardin beschreibt die Evolution als Vollendung der göttlichen Schöpfung, die sich auf ein Ziel hin entwickelt, dem sogenannten Omega-Punkt. Als eine Zwischenstufe stellt er sich die Kollektivierung des Geistes vor. Dieser durch den menschlichen Geist bestimmte und gestaltete Bereich umgibt den Erd-Globus wie eine Hülle. ([2]) Nach Jefremow muss es das Ziel der Menschheit sein, diese Noosphäre von Lüge, Sadismus und manisch-boshaften Ideen zu befreien. ([1], S. 309). Eine schlecht eingerichtete Gesellschaft wird von der Tendenz bestimmt, das Böse und Leid immer weiter zu vergrößern. Ohne entsprechende Sicherungssysteme gegen Lüge und Verleumdung wird die gesellschaftliche Moral immer weiter sinken und somit Machtstreben und Unterdrückung den Weg ebnen.
Im Gespräch mit den »Grauen Engeln«, einer geheimen Widerstandsgruppe verdeutlicht Fay Rodis, warum es so wichtig ist, Pläne und Ziele zur Veränderung der Gesellschaft für das Volk verständlich zu formulieren. Es käme ansonsten nur zum Austausch des Machthabers, die Befreier würden zu den neuen Unterdrückern. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, was sie über gerechte Gesetze äußert: »Gesetze sind nicht dafür gedacht, die Mächtigen, ihr Eigentum und ihre Privilegien zu schützen, sondern um Ehre und Würde zu wahren und den geistigen Reichtum eines jeden zu vergrößern. Wenn solche Gesetze erst mal da sind, könnt ihr die drei Schritte zu einer wahren menschlichen Gesellschaft tun: Ordnung und Gesetz, die wahrhaftig öffentliche Meinung und der Glaube an sich selbst. Macht diese drei Schritte – und ihr werdet eine Treppe aus dem Inferno bauen.« ([1], S. 411)
Mir persönlich gefällt eine Stelle des Romans besonders. Es ist die Erinnerung des Navigators Vir Norin an sein Leben auf der Erde: »Und keine Angst vor der Zukunft, außer der natürlichen Sorge um die übertragene Aufgabe, … Die stolze Freude, allen und jedem ohne Rast und Ruhe zu helfen … Das gewohnte Wissen, dass man jederzeit dieselbe Aufmerksamkeit seitens der anderen genoss und immer Unterstützung erhalten würde, das ausschließlich von der ausgeprägten Diskretion in Schranken gehaltene Bewusstsein, sich an jeden beliebigen Menschen wenden zu können, die Möglichkeit, mit jedem zu sprechen und ihn um jede erdenkliche Hilfe zu bitten … Das friedliche Umherstreifen auf der endlos vielfältigen Erde … und der überall anzutreffende Wunsch, alles zu teilen, was man besaß: Glück, Wissen, Kraft, Geschicklichkeit …« ([1], S. 455)
Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass Jefremow ein Universalgelehrter gewesen sein muss. Geschickt verbindet der Autor Themen aus den Bereichen Medizin, Geschichte, Physik, Mathematik, Astronomie und Soziologie zu einer interessanten Handlung. Dabei sind seine Ausführungen teilweise heute noch sehr aktuell, bspw. wenn er darüber nachdenkt, dass immer billiger hergestellte Nahrungsmittel irgendwann zu einem Gift werden können. ([1], S. 389). Auch die fortschreitende Zerstörung der Umwelt und ihre Folgen sowie das Problem der Überbevölkerung werden angesprochen und gewinnen durch ihre drastische Darstellung an Bedeutung.
Der Roman ist keine leichte Lektüre. Aber wenn der Leser Interesse an guter Science-Fiction mit einem gewaltigen Schuss Soziologie mitbringt, kann dieser Cocktail für viele Stunden spannender Unterhaltung sorgen.
Wenn ich Eines bemängeln möchte, dann ist es die Verwendung von Abkürzungen in einem Maß, das mit Fortschreiten der Handlung beim Lesen hinderlich ist. Ich war mehrmals gezwungen zurückzublättern und die entsprechende Erklärung für eine nicht immer nachvollziehbare Abkürzung zu suchen. Hier wäre ein Register im Anhang des Buches sehr hilfreich gewesen. Ich habe deshalb am Ende dieser Rezension einige häufig anzutreffende Abkürzungen und ihre Bedeutung aufgelistet.
Jefremows Vision einer zukünftigen Gesellschaft mag in der heutigen Zeit unrealistisch erscheinen. Aber es ist bekannt, dass der Autor sich die Entwicklung der Menschheit als eine aufsteigende Spirale vorstellte, geprägt durch Phasen schnellen Fortschritts verbunden durch dabei nicht ausbleibende Rückschläge. Der Traum von einer besseren Gesellschaft wird Menschen zu allen Zeiten beschäftigen und Jefremows Roman kann dazu in wunderbarer Weise anregen.
Abkürzungen und ihre Bedeutung
SDF – persönlicher Diener, Beschützer, Träger
PSA – Psychologische Aufsicht
GTI – Gittertransformation des Individuums
Shakti – Normalraum
Tamas – Antiraum
FSR – Fluggeschwindigkeit im Shakti-Raum
GSRS – Geradstrahlschiff
ÄGW – Ära der geteilten Welt
ÄAV – Ära der allgemeinen Vereinigung
ÄVH – Ära der verein(ig)ten Hände
ÜES – Überwachung elektronischer Schaltkreise
RAV – Rat für allgemeine Verbesserungen
ÄAA – Ära der allgemeinen Arbeit
ÄGR – Ära des Großen Rings
GKF – Gas der kurzen Freude
DPW – Psychodetektor
IKG – Inhibitor des Kurzzeitgedächtnisses
Zum Buch
Russischer Originaltitel: | Час Быка (Die Stunde des Stieres) |
Autor: | Iwan Jefremow |
Deutsch: | Maxim Knoll |
Verlag: | Edition TES im Ulenspiegel-Verlag Waltershausen und Erfurt 2010 |
Seitenzahl: | 502 |
Ausgabe: | Gebunden mit Schutzumschlag |
Quellen
[1] Die Stunde des Stiers – Edition TES im Ulenspiegel-Verlag Waltershausen und Erfurt 2009, herausgegeben von Gerd-Michael Rose
[2] WIKIPEDIA – Die freie Enzyklopädie (Noosphäre)
Buchcover © Catmando – Fotolia.com, Edition TES im Ulenspiegel-Verlag Waltershausen und Erfurt 2010
Die Illustrationen stammen aus der russischen Originalausgabe des Buches Сердце Змеи. Час Быка – Юнацтва, 1989 г
und sind Grafiken des Malers В.А. Малахов.
Die Informationen und Illustrationen einer russischen Originalausgabe stammen von ПУБЛИЧНАЯ БИБЛИОТЕКА.
Informationen und Bilder dürfen laut ПУБЛИЧНАЯ БИБЛИОТЕКА unter folgender Voraussetzung genutzt werden:
»Кроме того, разрешается любое некоммерческое использование любых материалов размещенных в библиотеке, в том числе и размещение на других сайтах. Также разрешаются ссылки на этот сайт и E-MAILы с других сайтов.«
Eigene Übersetzung:
»Außerdem wird eine jede nicht-kommerzielle Nutzung aller in der Bibliothek ausgestellten Materialien, einschließlich der Unterbringung auf anderen Web-Seiten erlaubt. Auch werden Links auf diese Web-Seite und E-Mails von anderen Web-Seiten erlaubt.«